• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 48

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denWeinstuben von Schlichter«
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zu Berlin bei einem heiteren Abendmahl mit ihren
Frauen saßen.
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»Einige gute Flaschen Steinwein leisteten uns Gesellschaft. Wir waren,
wie es in der Schrift heißt, des guten Weines voll, und er hatte diesmal bei uns auch
eine gute Wirkung getan.« »Bei mir«, so schreibt Ditzen in seinem
Gefängnis-Tage-
buch
von 1944 aus der Erinnerung, »war man dessen nicht immer sicher. Es war ganz
unberechenbar, wie der Wein auf mich wirkte, meistens machte er mich streitsüchtig,
rechthaberisch und prahlerisch.« Man bedenke, Ditzen sitzt 1944 im Gefängnis ein.
Er schreibt in dieser Situation über die unterschiedlich wahrgenommenenWirkweisen
des Alkoholgenusses. Da er sowohl gegenüber seiner Umwelt als auch gegenüber sich
selbst ein genauer Beobachter war, ist diese Beschreibung keine Fiktion. Bei Ditzen
hatte sich schon Anfang der 1930er Jahre eine Alkoholintoleranz entwickelt. Ein
bekanntes Phänomen: Geringe Mengen Alkohol können zu abnormen psychischen
Reaktionen führen. Belastend kommen bei Ditzen seine ständige Medikamentenein-
nahme hinzu sowie seine konstitutionelle Beschaffenheit. Er war eben nicht Rowohlt,
den der Alkohol nicht nur in der Schlichterschen Weinstube »immer mehr in einen
riesigen, zwei Zentner schweren Säugling verwandelt. Er saß, gewissermaßen Alkohol
aus jeder Pore seines Leibes verdampfend, wie ein feuergesichtiger Moloch am Tisch«.
So einprägsam Ditzen seine möglichen Reaktionen auf Alkohol auch beschreibt,
konsequente Lehren hat er nie daraus gezogen.
Dem Bericht Ditzens von jenem denkwürdigen Tag in Schlichters Weinstuben kom-
mt jedoch noch eine ganz andere, weltgeschichtliche Bedeutung zu. »In diese völlig
behagliche Situation«, schreibt Ditzen weiter, »stürmte ein aufgeregter Kellner herein
und erinnerte uns daran, dass es außerhalb unserer vollkommen geordneten Privatwelt
noch eine sehr viel größere Außenwelt gab, in der es zur Zeit recht turbulent zuging.
Mit dem Ruf: ›Der Reichstag brennt! Der Reichstag brennt! Die Kommunisten haben
ihn angesteckt,‹ stürzte er von Raum zu Raum des Lokals.«Die Rowohlts und Ditzens
wollten sich das brennende Reichstagsgebäude nicht entgehen lassen. Man sah beim
Vorbeifahren »in die feuerigen Flammen der Reichstagskuppel […] dieses unheimliche
Fanal, das am Anfang des Weges ins Dritte Reich stand«, so Ditzen 1944.
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Am Ort des Brandes treffen kurz nach dessen Ausbruch diejenigen ein, die dem
Dritten Reich seit dem 30. Januar 1933, dem Tag der »Machtergreifung« vorstehen:
Reichskanzler Adolf Hitler (1889 – 1945), der Reichskommissar und Reichstags-
präsident Hermann Göring (1893 – 1946) sowie der Berliner Gauleiter der
NSDAP
Joseph Goebbels (1897– 1945). In gleicher Zeit nimmt im brennenden Reichstag die
Polizei den am 13. Januar 1909 in Leiden geborenen Holländer Marinus van der Lubbe
fest. Er gilt fortan als Verursacher des an mehreren Stellen gelegten Brandes. Dem
sich als Kommunist zu erkennen gebenden van der Lubbe wird ebenso der Prozess
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