• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 49

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gemacht wie dem bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff (1892 – 1949) und
drei weiteren Festgenommenen. Die Nazis sehen den brennenden Reichstag und eine
kommunistische Verschwörung in direktem Zusammenhang. Zur Bekämpfung aller
Gegner werden unter der Parole »Jetzt wird rücksichtslos durchgegriffen« die ersten
Konzentrationslager errichtet – am 20. März 1933 in Dachau, am 22. März 1933 in
Oranienburg. Am 23. März 1933 wird das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und
Reich, das Ermächtigungsgesetz verabschiedet. Es dient dazu, die Position der neuen
Machthaber und ihrer Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (
NSDAP
)
mit Hilfe von Polizei und
SA
zu stärken. Für eine »geordnete Privatwelt« schien
nicht nur für Ditzen das Ende gekommen zu sein. Eine »viel größere Außenwelt«
hatte die Macht übernommen.
Während bei Ditzens in Berkenbrück, wenn auch mit schwelender Unruhe, das ge-
wohnte Leben zunächst weitergeht, übernehmen Bonhoeffer und Zutt ab dem
20. März 1933 besondere Aufgaben. Von diesem Zeitpunkt an untersuchen sie, sowohl
in Leipzig als auch im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit, den inhaftierten van
der Lubbe. Die Ergebnisse des Gutachtens publizieren sie im August 1934 unter dem
Titel
Über den Geisteszustand des Reichstagsbrandstifters Marinus van der Lubbe.
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Sie
schreiben, »dass an seiner Zurechnungsfähigkeit im Sinne des § 51
StGB
zur Zeit der
Begehung der Tat nicht zu zweifeln ist« und führen u. a. aus: »Nach seiner charakter-
ologischen Abartigkeit gehört er im Sprachgebrauch der Psychiatrie zu den Psycho-
pathen, die als Spielarten der Norm in ihrem Habitualzustand als zurechnungsfähig
zu gelten haben.«
Der Ausgang des Verfahrens ist bekannt. Der Urteilsspruch vom 23. Dezember
1933: »Van der Lubbe wird wegen Hochverrats in Tateinheit mit schwerer Brand-
stiftung zum Tode verurteilt.« Die anderen Angeklagten spricht man wegen Mangels
an Beweisen frei. Am 10. Januar 1934 ist van der Lubbe hingerichtet worden – so die
einleitende Feststellung in Bonhoeffers und Zutts Gutachten. Bis in die Gegenwart
wird über den Vorgang, dessen historische Bedeutung, über den Prozess, das Urteil
und über das psychiatrische Gutachten kontrovers diskutiert
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, wie auch damals
unter den Mitarbeitern der Bonhoefferschen Klinik. Wieder einmal ging es um die
»charakterologische Abartigkeit«, um Psychopathie und um den § 51. Auch Burlage
las den Artikel. Nunmehr mit anderen Augen. Die Erinnerung an die Aussage des
Zeugen Burlage im »Fall Ditzen«, die sich als Protokoll in der Rudolstädter Gericht-
sakte von 1911 befindet, drängt sich auf. Das damalige Geschehen, das Gutachten von
Binswanger, was den § 51
StGB
nach sich zog, und Burlages Wissen um die nachfol-
genden Ereignisse in Ditzens Leben machten ihn gewiss nachdenklich. Hatte er sich
doch imRahmen seiner Ausbildung zumNervenarzt nicht nur mit den ihm anvertrau-
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