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finden sich die Oberarztwohnungen I–V. In der Oberarztwohnung VI ist Dr. Jürg Zutt,
seit dem 1. Oktober 1920 Assistent der Nervenklinik, untergebracht. Auf der ersten
Morgenbesprechung, die Bonhoeffer täglich um 8.30 Uhr abhält, wird Burlage Zutt,
Schulte, Pohlisch, Jossmann, Schwarz und alle Assistenten kennenlernen. Die Morgen-
besprechungen, Visiten und die Bonhoeffersche Vorlesung Montag bis Freitag 9 bis
10 Uhr waren Pflichtveranstaltungen für alle. Für Burlage beginnt ein neuer, auch
schicksalhafter Lebensabschnitt.
Er fühlt sich wie die anderen Mitarbeiter dem Geist der Bonhoefferschen Klinik
verpflichtet. Intensive Arbeit am Patienten, Vorstellung von Patientenneuaufnahmen
in der Morgenbesprechung, Lesen der Fachliteratur, Besuch der Veranstaltungen der
Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten prägen den Tagesablauf.
Auf einem der wenigen Fotos, die Karl Bonhoeffer mit seinenMitarbeitern imHörsaal
der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité im Januar 1932 zeigen, ist Burlage,
nachdem er sich gerade vier Monate in der Klinik befindet, in der letzten Reihe zu
sehen.
Noch begegnen sich Arier und Juden in einer Atmosphäre freundlich-kollegialer
Distanz, wie sich die Jüdin Herta Seidemann (1900– 1984), Assistentin der Klinik seit
dem 19. September 1927, erinnert.
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In der Klinik trifft Burlage auch auf Marie-
Charlotte Lück, schon seit Jahren Chefsekretärin des Herrn Geheimrat. Lotte Lück,
wie man sie nannte, war, wie der Bonhoeffer-Mitarbeiter Hanns Schwarz (1898 – 1977)
in seinen Erinnerungen schreibt, »dieMutter der Assistenten, der jungen und der alten,
der arrivierten und der aufstrebenden. Keiner wusste, wie alt sie eigentlich war. Sie half
über pekuniäre Lücken durch Verteilung von Gutachten mit Vorschuss […] Sie wusste
alles und war verschwiegen […] Sie war die blonde Eminenz«.
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Die »blonde Emi-
nenz« hatte eine am 16. Juli 1907 in Berlin-Wedding geborene Tochter, Eva Johanna
Magdalene. Die Familie wohnte in der Seestraße 38. Noch hieß die junge Frau Lück,
bald wird sie sich Eva Burlage nennen. Wilhelm Burlage indessen verlässt in seiner
knappen Freizeit und an den Wochenenden das Nervenklinik-Dachzimmer. Er trifft
sich mit seinem Bruder, erkundet Berlin, wird über Hans Fallada und dessen schrift-
stellerische Aktivitäten in den Zeitungen lesen.
Begegnen werden sich die ehemaligen Schulfreunde in dieser Zeit nicht. Der »Hans
im Glück« kann den Versuchungen des Geldes nicht widerstehen. Leichtsinnigkeit
und Haltlosigkeit bestimmen sein Verhalten. Frauengeschichten begleiten seinenWeg,
ab und an Alkoholisches. Als Suse mit Sohn Uli am 12. Mai 1932 für zwei Wochen zu
ihrer Mutter nach Hamburg auf Pfingstbesuch fährt, werden die Frauengeschichten
ihres Mannes zu Hause peinliche Realität. Die gepriesene Abgeschiedenheit, die
Neuenhagen bietet, scheint Ditzen nicht zu bekommen. Er macht sich auf den Weg
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