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ten Patienten der Klinik beschäftigt. Das Studium der Fachliteratur war Bestandteil
der täglichen Arbeit. Vor allem interessierten Burlage die Publikationen von Franz
Kramer. Dieser hatte sich seit Jahren mit dem Problem der psychopathischen Konsti-
tutionen vor allem im Kindes- und Jugendalter auseinandergesetzt. Kramer verstand
unter »haltlos« eine ganz bestimmte psychische Struktur, bei der ein »Mangel an in-
nerem Halt die Ursache der abnormen Lebensführung [ist], dass mangelnder Wider-
stand gegen äußere und innere Impulse, ein mehr passives Hinabgleiten zugrunde
liegt«. Kramer sah in der Disharmonie der Persönlichkeit die ausschlaggebenden
Momente bei der Entwicklung solcher Haltlosigkeit. Hinzu kommen ein Mangel
an Nachhaltigkeit und Empfindlichkeit, an Willensschwäche und erheblicher Beein-
flussbarkeit. Phänomene von innerer Unruhe können mit Verstimmung und Stim-
mungslabilität einhergehen. Er beschrieb das Auftreten von Insuffizienzgefühlen auf
der einen Seite, andererseits war bei diesen Menschen eine hohe Selbsteinschätzung
zu beobachten. »Sie greifen«, so Kramer, »zu Narkotika und geraten in Alkoholis-
mus, Morphinismus und Cocainismus hinein […] Mit allen diesen Betätigungen wol-
len sie sich einen inneren Ausgleich wenigstens für den Augenblick verschaffen, den
sie normalerweise nicht erreichen können.« Und weiter schreibt Kramer zu diesem
Thema: »Die Geldangelegenheiten, die mit all dem verbunden sind, treiben sie in
immer größere Schwierigkeiten hinein und bringen sie schließlich zu kriminellen
Handlungen, und es entwickelt sich auf diese Weise ein Circulus vitiosus, in dem
Ursache und Wirkung sich dauernd steigern.«
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Burlage musste von dem Kramer-
schen Erfahrungsschatz und von der Beschreibung des Typus haltloser Psychopathen
zutiefst beeindruckt sein. Parallelen zu seinem Schulfreund Rudolf Ditzen, der nun
als der Schriftsteller Hans Fallada im In- und Ausland geschätzt und anerkannt war,
drängten sich auf.
Obwohl politisch nicht aktiv, gerät auch Ditzen ins Visier der neuen Machthaber.
Dabei spielt Paul Sponar, der Hausbesitzer vom Roten Krug Nr. 9 in Berkenbrück,
eine, wie von den Fallada-Biografen stets geschrieben wird, Rolle als Denunziant. Von
politischenWitzen aus demMundeDitzens über konspirative Treffenmit einem Juden
oder über Attentatspläne auf Hitler wird berichtet. Nach Sagner »bleibt stets im Un-
klaren, welche Vorwürfe konkret« zu Ditzens Verhaftung geführt haben.
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Das Er-
mächtigungsgesetz wird auch im Roten Krug seine Wirkung entfalten.
Am 12. April 1933, einem Mittwoch, wird Ditzen in seiner Wohnung von
SA
-Män-
nern abgeholt und im Amtsgerichtsgefängnis Fürstenwalde in Schutzhaft genommen.
Alle sind entsetzt: die schwangere Suse, der kleine Uli und der ohnehin schon nervöse
Ditzen. Er ist sich keiner Schuld bewusst und sicher, dass für seine Inhaftierung Sponar
gesorgt hat. Die Aufregung ist groß. Die Nervenanspannung kann auch durch die Er-
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