• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 33

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nungen zur Ernährung, über Disziplinlosigkeit beim Nikotinmissbrauch, krankhaftes
Überzeugtsein vom Wert der eigenen Persönlichkeit bestimmen den Aufenthalt in
Bad Berka. Dr. Starcke geht auch auf die »sehr überschätzte angebliche Begabung zum
Dichten und Schriftstellern« ein, die er als »minderwertig« bezeichnet. Sein gutach-
terliches Resümee: Er hält »die Krankheit des Rudolf Ditzen für eine durch erbliche
Belastung verstärkte traumatischeNeurosemit eigentümlichen pathologischen Erschei-
nungen, die durch den hiesigen Sanatoriumsaufenthalt gebessert, aber nicht geheilt
worden sind«.
Mit dieser Einschätzung versehen, wird Rudolf am 7. Juni 1911 Bad Berka in Beglei-
tung verlassen und für viereinhalb Wochen nach Schnepfenthal zu Verwandten ge-
bracht und dann weiter zum Generalsuperintendenten Arnold Braune nach Rudol-
stadt. Auch dessen Aussagen über Ditzen lagen Binswanger vor. Braune berichtet von
Schwindelanfällen und Erbrechen, von maßlosem Rauchen, gar von einer ärztlich
festgestellten Nikotinvergiftung und von großen Mengen Bier, die Ditzen auf einem
Fest getrunken habe. Aber auch sein exzentrisches Wesen wird von Braune themati-
siert.
Professor Binswanger, wenn auch ein routinierter Gutachter, stand nun vor einer
schwierigen Aufgabe. Er war sich der komplizierten Situation bewusst, in die der junge
Rudolf Ditzen sich und seine Familie gestürzt hatte. Als Gutachter musste er sach-
lich und neutral sein, musste dennoch in seinem Gutachten Akzente setzen, musste
die Vielzahl der Einzelinformationen und Sachverhalte sichten und bewerten. Es war
naheliegend, dass er nur über einen Katalog von Beschreibungen, von qualitativ und
quantitativ bestechenden Eigenschaften bei Rudolf Ditzen sich dem § 51 nähern konn-
te, um dann am Ende seines 31 Seiten umfassenden Gutachtens zu schreiben: »Wir
stehen deshalb nicht an, unser Urteil dahin abzugeben: der p. Ditzen befand sich zur
Zeit der Begehung der Tat in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit,
durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (§ 51
StGB
). Der
geistige Zustand nach der Tat, zur Zeit des Aufenthaltes imKrankenhaus in Rudolstadt
und in der hiesigen Klinik bestätigt nur die vorstehende Auffassung. Der p. Ditzen
ist auch zur Zeit geistig krank und bedarf wegen seiner Selbstmordtendenzen der wei-
teren ärztlichen Behandlung in der Klinik. Aber auch sein körperliches Befinden (die
krankhaften Erscheinungen von Seiten der Lungen infolge des Schusses) würde die
Inhaftierung zur Zeit ausschließen. Jena, den 31. Dezember 1911.«
Der Pfad der Begründung, der zu diesem Ergebnis führt, liest sich bei Binswanger
folgendermaßen: »Auf Grund der vorstehenden Schilderung der Abstammung, des
individuellen Entwicklungsganges und der näheren, die Ausführung der Tat vorbe-
reitenden und begleitenden psychischen Vorgänge gelangen wir zu nachstehenden
1...,23,24,25,26,27,28,29,30,31,32 34,35,36,37,38,39,40,41,42,43,...136
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