• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 29

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In seinen Text fließen Äußerungen ein wie: »Neckers Gedanke war: unser Tod sei ein
Fest – schien mir der richtige Abschluss eines Lebens, in dem alles Schatten und un-
wirklich war.« Vor allem in dem Satz »Unser Tod sei ein Fest« nimmt er direkt Be-
zug auf Nietzsches Werk
Also sprach Zarathustra
, in dem es heißt: »Wichtig nehmen
Alle das Sterben: aber noch ist der Tod kein Fest.«
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Weitere Ausführungen betreffen
seine Stimmungslage: »Ich hatte nie die Herrschaft über meine Stimmungen«, »Ich
war der Mensch der Passivität«. Ditzen beschreibt dann das Tatgeschehen im Einzel-
nen. Wie das Gewehr geladen wurde, wie ihm beim Zielen der Gedanke kam: »Das
ist Wahnsinn, dass du hier stehst.«Wie Freund Hanns Dietrich sagte: »Feuer!«, wie
sie schossen. »Ich sah zu ihm hinüber, einen Augenblick stand er ganz still, dann fiel
er mit einem Schrei nach hinten.« Wie Ditzen in seiner Verzweiflung auf sich selbst
schoss und sich dann vom Uhufelsen hinunterschleppte, »von da an weiß ich kaum
etwas«. Am Ende des Lebenslaufs schreibt er von den Ereignissen im Rudolstädter
Krankenhaus, den »vielen Morphium-Einspritzungen, die ich wegen meiner Schmer-
zen erhielt«, vom Besuch der Eltern, dem Nachdenken über Scham und Reue und
»ob ich wohl Angst vor einer Gefängnisstrafe haben würde. Aber ich hatte sie nicht.«
Ditzens letzte Sätze offenbaren nicht nur demGutachter Binswanger, sondern auch
dem heutigen Betrachter wesentliche Seiten seines Innenlebens: »Ich bin dabei noch
nicht so pervers in meinem Fühlen, um mir nicht zu sagen, dass diese Gedankenwelt
etwas anormales ist. Aber in den letzten Tagen kam es mir doch schon vor, ob nicht
vielmehr die anderen anormal dächten. Aber immer wieder frage ich mich staunend,
warum ich dies alles so sehr offen schreibe. Denn es hat mir teilweise doch Schmerzen
bereitet, soweit ich überhaupt Schmerzen empfinde. Und ich glaube nicht, dass ich
dies deshalb so offen getan habe, weil ich noch an eine Heilung glaube. Und auch nicht
deshalb, weil ich mir selbst über mich klar werden wollte. Denn wenn ich auch eigent-
lich nur Fehler besitze, so habe ich doch die eine gute Seite, dass ich diese Fehler nie
vor mir selbst verberge. Nein, es war etwas anderes. Ich fing mit Unlust diese Lebens-
beschreibung an, diese Erzählung eines Lebens, das nie zart und schön, sondern stets
ekelhaft oder krankhaft war. Aber ich sah mit Staunen, wie sich eins fein aufs andere
aufbaute und dass von frühester Jugend an alles diese Tat vorbereitete, ja ahnen ließ.
Hatte ich bis jetzt nur die Rückseite des gewobenen Lebens gesehen, auf der alle Fäden
wirr und unenträtselbar durcheinander schossen, so sah ich jetzt die rechte Seite und
sah, dass alles sinngemäß war und alles so kam, wie es kommen musste.«
Hält man an dieser Stelle inne und vergegenwärtigt das Niedergeschriebene, dann
wirdderStellenwertdiesesLebenslaufes imZusammenhangmitdenEreignissenumden
Tatbestand des Doppelselbstmordes und der Familiengeschichte im lebensgeschicht-
lichen Kontext von Ditzen erkennbar. Dabei stehen seine Persönlichkeits- und Verhal-
1...,19,20,21,22,23,24,25,26,27,28 30,31,32,33,34,35,36,37,38,39,...136
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