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bei dem 17-Jährigen lässt sich der starke Wunsch, ja der Zwang, Tabak zu konsumieren,
belegen. Ditzen verlor wohl bereits im frühen Alter nicht nur zeitweise die Kontrol-
le über seinen Tabakverbrauch, die Abhängigkeit nahm ihren Lauf. Die Molekular-
biologie lehrt, dass Nikotin in bestimmten Hirnbereichen das Risiko einer Abhängig-
keit, einer Sucht erhöht. Aus der Epidemiologie ist bekannt, dass kaum ein Mensch
seine Sucht mit Heroin oder Kokain beginnt. Die Vorläufer hierzu heißen Nikotin
und Alkohol.
Die Analyse des Verhaltens bei Ditzen zeigt, dass der Tabakkonsum in der Folge
stets mit Reizbarkeit, »nervösen Kopfschmerzen« und Schlafdefizit einhergeht. Dit-
zen hat sich schon damals eine eigene Erklärung zurechtgelegt, wenn er einem Mit-
schüler des Gymnasiums erläutert, dass er mit dem Rauchen seine Nerven beruhigen
wolle. Selbst nach dem achtwöchigen Sanatoriumsaufenthalt in Bad Berka, der für ihn
am 10. April 1911 seinen Anfang nimmt, kommt der 1871 geborene Dr. Starcke in sei-
nem ärztlichen Gutachten zu dem Ergebnis: »Das Verbot des Nikotinmissbrauches
wurde nicht befolgt.« Auch in dieser Zeit ist also Ditzens Rauchverhalten nicht zu be-
einflussen, selbst wenn Starcke im Prospekt seines Sanatoriums die »streng individu-
elle Behandlung« besonders hervorhebt. Der Nikotinmissbrauch wird Ditzens lebens-
langer Begleiter sein.
Im Jahre 1911 standen Binswanger alle angegebenen Einzelheiten und Dokumente
zur Verfügung. Ergänzt wurden die Materialien durch Angaben von Dr. Eggebrecht,
Medizinalrat Hellbach, Dr. Starcke und von Lehrern. Binswangers Aufgabe bestand
darin, auf der Basis seines Wissens und seiner klinisch-psychiatrischen Erfahrung die
forensische Fragestellung für das Gericht zu lösen. Er musste sich mit dem § 51 ausein-
andersetzen. Es ging um Gefängnis oder Unterbringung in der Psychiatrie. In diesem
Punkt orientierte sich Binswanger am psychiatrischen Wissensstand und an dessen
aktueller Terminologie. Im vorliegenden »Fall R. D.« spielte aber auch der Zeitgeist
und letztlich die honorige Person Binswangers eine Rolle. Immerhin wurde Binswan-
ger in seiner Amtszeit als Direktor der Jenaer Psychiatrischen Klinik zwei Mal zum
Rektor der Universität Jena gewählt und stand fünf Mal deren Medizinischer Fakul-
tät als Dekan vor.
Seiner Rektorats-Antrittsrede 1911 gab er den programmatischen Titel
Über psycho-
pathische Konstitution und Erziehung
. Wie aber kamBinswanger auf die imGutachten
abgegebene Einschätzung, dass Ditzen sich »zur Zeit der Begehung der Handlung in
einemZustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit, durch den seine freieWillens-
bestimmung ausgeschlossen war«, befand und daher Justizrat Paul Sommer mit Da-
tum vom 24. Januar 1912 schreiben konnte, dass »Herrn Gymnasiast Rudolf Ditzen,
z. Zt. in der Klinik des Herrn Geh. Rat Professor Dr. Binswanger, Jena«, aufgrund
1...,21,22,23,24,25,26,27,28,29,30 32,33,34,35,36,37,38,39,40,41,...136
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