• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 25

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Die Schilderungen des jungen Ditzen im
Jenaer Lebenslauf
gewähren aufschlussrei-
chere Einblicke in sein Denken und sein Gefühlsleben, als es familienanamnestische
Daten hergeben. Seine Beschreibung führt uns in die Kindheit und das Elternhaus,
in die schulische Erfahrungswelt, zu den Mitschülern, zu den Freundschaften, Nei-
gungen, Enttäuschungen, Krisen, Wünschen und utopischen Vorstellungen, die von
literarischen Vorbildern wie Oscar Wilde (1854– 1900), Hugo von Hofmannsthal
(1874– 1929) oder Friedrich Nietzsche (1844– 1900) ausgingen. Die von Börner und
Mitarbeitern besorgte Transkription jener von Ditzen erstellten 36 eng beschriebenen
Seiten aus dem Ausstellungskatalog
Hans Fallada in Thüringen
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dient als Grundlage
der folgenden Angaben.
Rudolf Ditzen beginnt seine Aufzeichnungen mit dem Satz: »Ich wurde am 21. Juli
1893 als Sohn des Landgerichtsrats Ditzen in Greifswald geboren.« Als er fünfeinhalb
Jahre alt war, wurde sein Vater nach Berlin versetzt. Hier besuchte der Junge zunächst
das Prinz-Heinrichs-Gymnasium in der Grunewaldstraße 15 in Berlin-Schöneberg.
»Meine Freunde waren sämtlich nicht aus meiner Klasse«, »Meine Hauptspiele spiel-
te ich zu Haus«. Er beschreibt, dass er »oft tagelang mit dem großen Steinbaukasten
eigentlich ohne jede Unterbrechung gespielt« habe. Später kam Puppenspielen hin-
zu. »Ich habe mit nichts so gerne und so leidenschaftlich gespielt als mit Puppen.«
Der Junge las viele Bücher aus der umfangreichen Bibliothek seines Vaters. »In der
Schule war ich schon von Sexta auf das Zielobjekt der Späße meiner Klassengenossen
geworden. Ich hatte keine Kräfte, mich dagegen zu wehren, den Mund wagte ich nicht
aufzutun, so schloss ich mich immer mehr ab.« Er beschreibt, wie ihn die Schüler,
bald auch ein Lehrer »hänselten und ärgerten«. Der Junge entwickelte »einen tie-
fen Hass gegen diesen Lehrer«, war ihm gegenüber aber »hilflos wütend«. Mit einer
»langwierigen Darmentzündung über ein Vierteljahr hindurch« rettete sich Ditzen
in Krankheit, d. h. Schulausfall. Kaum wieder in der Schule, erlebt er »all die kleinen
Schrecknisse […] und wurde da zum ersten und wohl auch einzigen Mal in meinem
Leben energisch«. Der Zwölfjährige weigerte sich, zur Schule zu gehen. Sein Vater be-
trieb daraufhin den Schulwechsel auf das Bismarck-Gymnasium in Wilmersdorf. Nun
musste er wegen der Ausfallzeiten nochmals »mit der Quarta anfangen«. Er fand zwar
keine neuen Schulfreunde in dieser Schule, gewann aber die Zuneigung des Ordinarius
der Klasse, »ein gutmütiger alter Herr, dessen erklärter Liebling ich bald wurde«. Es
kehrte die Lust an Lernen und Schule zurück, gefolgt vom Lob des Lehrers. »Meine
Eltern hatten mich bisher für beschränkt gehalten, jetzt zeigte sich, dass ich zu den
Meistbegabten gehörte.« Ditzen erreichte den dritten Platz in der Klasse. Spazieren-
gehen, wenn auch am liebsten allein, Fantasien nachgehen und Luftschlösser bauen
stellten sich als Folge der neuen Selbstfindung ein. »So ging es, bis ich nach Leipzig
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