• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 22

18
gebracht, nahm aber die Wachsäle zur Kenntnis, in denen sich die Geisteskranken–
hinter vergitterten Fenstern und nach Geschlechtern getrennt, schlafend, apathisch
oder unruhig, aggressiv, vomWahnsinn getrieben – befanden. Ditzens Tagesablauf war
einfach strukturiert. Er wurde von den männlichen Wärtern, so die damalige Bezeich-
nung für das Pflegepersonal, bestimmt. Sie besaßen die Schlüssel, sogenannte Passepar-
touts, mit denen einheitlich die Türen, die über keine Klinken verfügten, geöffnet oder
geschlossen wurden. Zu Ditzens privilegierten Bedingungen gehörte auch, dass er von
einem Arzt aus der Binswangerschen Ärzteschaft betreut wurde. Dr. Paul Schönhals,
ein 32-jähriger Oberarzt, war der unmittelbare Ansprechpartner für ihn, für die Eltern,
für die zur Betreuung hinzugezogene Tante Adelaide (1859– 1939), genannt Ada.
Angesichts der von Dr. Hellbach geäußerten Einschätzung, dass Ditzen ein »Neu-
rastheniker« sei, befand dieser sich bei Schönhals in den besten Händen. Hatte der
doch 1906 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin
Über die Ursachen der
Neurasthenie und Hysterie bei Arbeitern
promoviert. Darum ging es vorerst aber weni-
ger. Für die anstehende Begutachtung be-
durfte es des Studiums und der Bewertung
aller vorliegenden Unterlagen. Eine be-
sondere Bedeutung im Ablauf der Begut-
achtung stellten die Aussagen von Zeu-
gen dar, denen Rudolf Ditzen in seinem
Leben bis hierher begegnet war. Lehrer,
Klassenkameraden, Bekannte, Ärzte, die
ihn behandelt hatten, und die Mitglieder
der Familie kamen zu Wort. Alle Aussa-
gen und Angaben, alle Dokumente sind
Inhalt der Rudolstädter Gerichtsakte, die
imThüringischen Staatsarchiv Rudolstadt
einsehbar ist. Weitere Bestände befinden
sich im Stadtarchiv Rudolstadt und im
Stadtmuseum Jena. Die Krankenakte Ru-
dolf Ditzens lagert im Universitätsarchiv
in Jena.
So ist nachzulesen, welche Angaben
Vater, Mutter und Tante Ada zur Familien
geschichte, zur Familienanamnese
4
bei-
trugen–Angaben, die ansonsten sorgsam
verschwiegen wurden. Rudolf Ditzens be-
Der Gymnasiast Rudolf Ditzen, 1907
1...,12,13,14,15,16,17,18,19,20,21 23,24,25,26,27,28,29,30,31,32,...136
Powered by FlippingBook