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Holocaust, die »Aktion T4« mit der Vernichtung psychisch kranker Kinder und
Erwachsener, das Ende des Nazi-Regimes und die Zeit im Nachkriegsdeutschland
spiegeln sich in unterschiedlichen Facetten in der Person Falladas wider, der zu den
Schriftstellern gehörte, die nach 1933 inDeutschland blieben. Sein Lebenslauf ist durch
Höhen und mehr noch durch Tiefen gekennzeichnet. Leiden und Krankheit bestimm-
ten wesentlich sein Leben. Dem Verhältnis zwischen psychischer Auffälligkeit, Verer-
bung, Anlage, Umwelt und künstlerischem Schaffen soll nachgegangen werden. Hier-
zu wird sich der Angaben, Aussagen, Befunde und Gutachten bedient, die während der
Aufenthalte Falladas in Sanatorien, Heilanstalten, psychiatrischen Kliniken und Ge-
fängnissen nicht nur von Ärzten, sondern auch von ihm selbst und seiner Umgebung
stammen. Leider sind vielfach wichtige Unterlagen durch die Ereignisse des Zweiten
Weltkrieges verloren gegangen oder in den Institutionen nach Ablauf der Aufbewah-
rungspflicht von 30 Jahren aussortiert worden. Aufschlussreich sind die Inhalte des
umfangreichen Briefwechsels, den Fallada zeit seines Lebens führte. Wichtige Infor-
mationen und Zusammenhänge wurden durch Recherchen in Archiven aufgedeckt,
viele gewonnene Details zusammengefügt und zusammenhängend interpretiert. Sie
erheben nicht den Anspruch, eine durchgängige diagnostische Einschätzung oder gar
medizinische Diagnose bei Fallada zu stellen. Nur zu gut ist aus der neuropsychiatri-
schen Praxis bekannt, wie es sich mit der Diagnosestellung in der Psychiatrie verhält.
Der Einfluss des Zeitgeistes lässt sich sowohl an der Diagnose »Depression« als auch
»Psychopathie« oder »Neurasthenie« bei Fallada aufzeigen. Die von Medizinern ge-
schaffenen Klassifikations- und Diagnosensysteme gleichen eben nicht der Konstanz
des Periodensystems der chemischen Elemente. Würde der verdienstvolle Professor
Binswanger Rudolf Ditzen in der heutigen Zeit begutachten, müsste er statt von einer
Psychopathie von einer Persönlichkeitsstörung sprechen. Die bei dem Gymnasias-
ten Rudolf Ditzen vorgefundene »Entwicklungshemmung« könnte Binswanger als
»Rückstand in der psychobiologischen Entwicklung« deuten und sie nunmehr als
»unreife Persönlichkeit« klassifizieren. Sollte Binswanger die weiteren Auffällig-
keiten, die er bei Ditzen vorfand, als »haltlose Persönlichkeit« oder gar »dissoziale
Persönlichkeit« bezeichnen, würde er zu der Aussage einer »multiplen Persönlich-
keitsstörung« gelangen. Der Arzt der Familie Ditzen in Leipzig, Dr. Eggebrecht, wäre
heute angehalten, sein Urteil, dass die Mutter von Rudolf Ditzen an »Hysterie« leide,
als »histrionische Persönlichkeitsstörung« einzuordnen. Diejenigen, die damals von
»Neurasthenie« sprachen, würden nun »psychasthenische Persönlichkeit«, gar
»Burnout« in das Krankenblatt schreiben.
Vor der Einführung von Diagnosensystemen in der Psychiatrie im Jahre 1972 ver-
ständigte man sich also weitgehend über die Definition einer psychischen Krankheit.
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