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In der 1911 erschienenen 3. Auflage findet sich im Anschluss an seinen Beitrag über
die Geisteskrankheiten ein gesondertes Kapitel
Die psychiatrischen Aufgaben des ärzt-
lichen Sachverständigen.
Er begründete es mit den Worten: »Im Hinblick auf die im
Jahre 1906 in vollem Umfange in Kraft getretene neue Prüfungsordnung für Ärzte
vom 28. Mai 1901 halten wir es für geboten, die wichtigsten gesetzlichen Bestimmun-
gen hier anzuführen und erläuternde Bemerkungen über ihre Handhabung beizufü-
gen.« Die neue Prüfungsordnung sah u. a. vor, dass erstmals die Psychiatrie als Pflicht-
prüfungsfach aufgenommen wurde, eine nicht nur von Binswanger lange angemahnte
und nun realisierte Notwendigkeit. Der Arzt als Gutachter musste sich nunmehr mit
den strafrechtlichen Bestimmungen gegenüber dem Richter, der Justiz, auseinander-
setzen. Es ging um Fragen der Entmündigung, der Geschäftsfähigkeit, vor allem aber
um die Zurechnungsfähigkeit. Dabei spielte der § 51
StGB
, der seit dem 1. Januar 1872
Gültigkeit hatte, eine entscheidende Rolle. Hier heißt es: »Eine strafbare Handlung
ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in ei-
nem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit be-
fand, durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.« Binswanger
verleiht diesem Gesetzestext seine fachlichen Erläuterungen. Als erstes führt er aus:
»Die ärztlichen Aufgaben, welche dem Sachverständigen aufgrund dieses Paragrafen
zufallen, beschränken sich streng genommen nur auf die Feststellung, ob ein Ange-
schuldigter sich in einem Zustande von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der
Geistestätigkeit zur Zeit der Begehung der strafbaren Handlung befand.« Binswanger
war der Auffassung, dass »in erster Linie überhaupt die Frage zu lösen ist, ob eine aus-
gesprochene Geisteskrankheit im wissenschaftlich-medizinischen Sinne vorliegt zur
Zeit der Begehung der strafbaren Handlung«. Eine weitere Schwierigkeit bieten nach
Binswanger »die Grenzzustände zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit, bei
welchen die Individuen gewissermaßen in der Mitte zwischen geistiger Krankheit und
Gesundheit stehen«. Besonderes Augenmerk wurde auf die »konstitutionelle psycho-
pathische Veranlagung«, auf die Psychopathie im Allgemeinen gelegt.
Über Psychopathie (vomGriechischen abgeleitet Psyche–Seele und Pathos –Leiden,
also Seelenleiden) und psychopathische Minderwertigkeit wurde seit 1891 gesprochen,
als Ludwig Julius August Koch (1841–1908) diesen Begriff in die Fachliteratur einführte.
In den folgenden Jahren setzten sich die Psychiater mit Erweiterungen und Modifikatio-
nen auseinander. Begriffe wie »psychopathische Konstitution«, »neurasthenische psy-
chopathische Konstitution«, »Neurasthenie«, »Nervenschwäche« fanden Eingang in
die Terminologie und wurden auch im Zusammenhang mit dem § 51
StGB
diskutiert.
Binswanger veranlasste, um sich ein umfassendes Bild zu verschaffen, dass Ditzen
über sein bisheriges Leben, über seine Gedankenwelt und über das Tatgeschehen
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