• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 23

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sorgte Mutter Elisabeth (1868– 1951) berichtete freimütig, dass in ihrer Familie meh-
rere Fälle »abnormen Geisteszustands« zu verzeichnen waren. »Mein Bruder hat
sich als Student das Leben genommen, weil er, wie er angab, fürchtete, geisteskrank zu
sein.« Und weiter: »Auch eine Schwester meines Vaters soll sich das Leben genom-
men haben. Unter den Verwandten meines Vaters fanden sich mehrere eigentümliche
Menschen.« Sie selbst sei seit »fast drei Jahren infolge der verschiedenen aufregenden
Ereignisse nervös geworden«, habe allerdings schon früher »das Leben nie leicht ge-
nommen«.
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Adelaide Ditzen, die Schwester des Vaters von Rudolf Ditzen, wird in ihren Darle-
gungen noch eindeutiger, wenn sie ausführt: »Über geistige Störungen in der Familie
Ditzen kann ich folgende Angaben machen: Meine Mutter ist 12 Jahre lang rücken-
markleidend gewesen und hat öfters den Wunsch bestätigt, Selbstmord zu begehen.
Ein Sohn der Schwester meiner Mutter ist im Irrenhaus gewesen … und mehrere ihrer
Schwestern waren hochgradig hysterisch. Die Mutter des Angeschuldigten leidet seit
etwa zehn Jahren an schweren Depressionszuständen, die vielleicht durch eine leichte
Epilepsie verursacht sind.«
InAnbetrachtderTatsache, dassTanteAda eine inder Schweiz ausgebildete, versierte
Krankenschwester war, später in Rom in einer chirurgischen Klinik tätig, sind deren
Angaben als nicht so dahergeredet zu bewerten, sondern weisen auf hohe fachliche
Kompetenz hin.
Was bedeutet aber die Aussage, dass Rudolfs Mutter »seit über zehn Jahren an
schweren Depressionszuständen« leidet, wenn man sie in Beziehung zu der Aussage
des Sachverständigen Dr. Ernst Eggebrecht (1864– 1953) setzt, der die Familie Ditzen
als Hausarzt über Jahre kennt? Eggebrecht hatte seine Ausbildung bei dem renommier-
ten Internisten und Fachmann für Infektionskrankheiten Professor Dr. Heinrich
Curschmann in der Medizinischen Universitätsklinik in Leipzig absolviert. In dieser
Zeit hatte er über
Febris recurrens
, dem Rückfallfieber, und Curschmann zum Thema
Unterleibstyphus und Fleckfieber
publiziert.
Nun gab Eggebrecht 1911 zu Protokoll, dass Elisabeth Ditzen seit Jahren an schwe-
rer Hysterie und melancholischen Zuständen leide. »Die Depressionszustände«, so
der Hausarzt, »äußern sich in heftigen Weinkrämpfen, Unfähigkeit zu gehen und
einem krampfhaften Zittern und sind keineswegs abhängig von äußeren Anlässen.«
Eggebrecht informiert also mit einem medizinisch-psychiatrischen Vokabular, das
kann nur als Resultat ärztlicher Begutachtung der Familie und der Mutter von Rudolf
gewertet werden. Auf der anderen Seite wurden die angeführten Wesenseigenschaften
der Mutter durch Rudolf selbst und die weiteren Mitglieder der Familie als solche
jahrelang beobachtet. Die akzentuierten Wesenszüge des Vaters hingegen werden mit
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