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dieses Sachverhaltes »außer Verfolgung« zu setzen sei? Paul Sommer (1860– 1934),
Rechtsanwalt und Notar in Rudolstadt, war zusammen mit Rechtsanwalt Paul Fam-
bach (1877– 1958) die Verteidigung von Rudolf durch seinen Vater WilhelmDitzen in
Form einer Prozess-Vollmacht übertragen worden. Zweifellos waren den Verteidigern
und Binswanger die schon imVorfeld der Verhandlung abgegebenen Beurteilungen zu
Verhaltensweisen und Krankheitssymptomen Ditzens bekannt.
So auch das ärztliche Gutachten des Direktors Dr. Starcke vom gleichnamigen Sana-
torium»Schloss Harth«, einer modernen Kuranstalt für Nerven-, Herz-, Magen- und
Darmkranke in Bad Berka, wo sich Ditzen bis Juni 1911 befand. Hier wurden vor allem
»Krankheiten des Nervensystems aller Art: Neurasthenie mit ihren Begleiterscheinun-
gen, Hysterie, Schlaflosigkeit auch in hartnäckigsten Fällen, chronische Nervosität mit
Erregungszuständen, Lähmungen, Depressionszustände mit Angst und Vorwürfen,
Neuralgien, Migräne, Schwindel, Tabes, Impotenz« behandelt, aber auch »Erschöp-
fungszustände jeglicher Art: Überarbeitung, geistige Abspannung«. Im Regelfall wur-
de ein Gesamtpreis je nach Größe und Lage des Zimmers von täglich 12 bis 20 Mark
berechnet, wie im Informationsprospekt zu lesen ist.
Die Eltern hatten schon eine noble Einrichtung ausgesucht, die auch wegen ihrer
Indikations- und Behandlungsbreite beste Voraussetzungen versprach, dass ihr Junge
nach den zurückliegenden Ereignissen wieder »gesund« werden würde. Am Ende
des achtwöchigen Aufenthalts gibt Dr. Starcke nun eine inhaltsträchtige Darstellung
seiner Beobachtungen und Untersuchungsergebnisse als »Ärztliches Gutachten über
den Geisteszustand des Gymnasiasten Rudolf Ditzen aus Leipzig«.
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Seinem Gut-
achten vorausschickend beschreibt er die Anstalt als keine geschlossene Nervenklinik,
sondern als ein offenes Sanatorium, in dem »eine Überwachung und Beobachtung
der Patienten nur in gewissen Grenzen möglich ist«. »Schloss Harth« war eben nicht
die von Rudolf gefürchtete Irrenanstalt, die sich hinter demWort Sanatorium verbirgt.
Dennoch, so der Gutachter, »seine Überführung in das hiesige Sanatorium ruft nach
Angabe der Mutter große Erregung bei ihm hervor, da er Angst hat, in eine Irrenanstalt
gebracht zu werden«. Wie aber sollte ein 17-Jähriger auch um die Unterschiede zwi-
schen Anstalten für Geisteskranke, psychiatrischen Kliniken und Sanatorien wissen.
Tatsache ist, dass Ditzen sich bei der Aufnahme weigerte, »hier zu bleiben, so dass die
Mutter ihn wieder mitnehmen wollte«. Es bedurfte erst einer »großen Überredung«
von Starcke, dass Ditzen nun bleiben und sich behandeln lassen wollte.
Ditzens Stimmung ist anfänglich gedrückt, er zeigt sich verschlossen. Während des
Aufenthaltes verbessert sich das Allgemeinbefinden, »Erregungszustände« werden
nicht mehr beobachtet, allerdings bestehen weiterhin »Kopfdruck und leichte Ermüd-
barkeit nach geistigen Arbeiten«. Angaben über die nur widerwillig befolgten Anord-
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