• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 30

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tensmerkmale, die er differenziert und eindringlich beschreibt, und die von außen ein-
wirkenden und prägenden Kräfte, die im Wechselverhältnis stehen zu seiner Ich-Ent-
wicklung und auch Ich-Demarkation, im Mittelpunkt des Interesses. Von Hänseleien
in der Schule durch Schüler und Lehrer wird berichtet, die ihn hilflos und wütend ma-
chen, die Hassgefühle hervorrufen. Von all diesen Dingen wissen die Eltern nicht, und
auch nicht, wie er seine Gefühle verbirgt, dass Rückzug und Neigung zur Isolation sich
abwechseln mit unbeherrschten Reaktionen gegenüber seiner Umwelt. Hinweise für
eine Polarisierung in seinem Verhalten, entweder Sympathie oder Antipathie, treten
offen zu Tage. Beispielhaft wird dies deutlich in der Auswahl seiner zwei Freunde, die
»ganz entgegengesetzte Naturen« waren. Ein Verhalten, das er von sich auch gegen-
über Tieren beschreibt, die er eigentlich leidenschaftlich gern hatte und die er von mor-
gens bis abends umsorgte, um sie gleichzeitig zu quälen. Aus verschiedenen Anlässen
wird kontinuierlich, aber mit zunehmender Intensität über Jähzorn, Reizbarkeit, Wut,
nervöse Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, Zwangsvorstellungen, Stimmungsschwan-
kungen und Selbstmordgedanken berichtet. Die Sorge, wahnsinnig zu werden–was
dies für ihn auch immer bedeuten mochte – griff um sich. Im Kontrast hierzu fin-
den sich Züge von Hochmut, von Überhöhung seiner Fähigkeiten, insbesondere der
schriftstellerischen, von Fehleinschätzungen seiner Person und der ihn umgebenden
Realität, d. h. seiner Umwelt. Die souveräne Selbstdarstellung mit Merkmalen einer
Selbstinszenierung endet schließlich in der minutiösen Beschreibung des Tatherganges.
Nachdem er sich imRudolstädter Krankenhaus nochmals eine rückschauende Analyse
zurecht denkt, findet Ditzen die gleichermaßen fragende wie antwortende Aussage:
»Und dann überlegte ich, ob ich wohl Angst vor einer Gefängnisstrafe haben würde.
Aber ich hatte sie nicht. Denn ich dachte, dass es draußen schließlich auch nicht viel
bunter wäre als drinnen.« An eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik, in eine
Irrenanstalt, an einen länger dauernden psychiatrischen Aufenthalt dachte Ditzen in
diesemMoment wohl nicht.
Eines besonderen Hinweises bedarf ein Verhaltensmerkmal Ditzens, das wohl als
Ausgangspunkt seines süchtigen Verhaltens überhaupt anzusehen ist. Es handelt sich
um das exzessive Rauchen, den sich bei ihm entwickelnden Nikotinmissbrauch, die
Tabakabhängigkeit
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. Schon auf dem Gymnasium ist seinen Lehrern und Mitschülern
das Ausmaß des Tabakgebrauchs aufgefallen. Es war aber nicht nur die Umwelt, die es
wahrnahm. Er selbst beschreibt den Tabakkonsum dezidiert Weihnachten 1910: »In-
zwischen hatte ich zu rauchen angefangen, nicht allmählich, sondern gleich in Massen,
Shagpfeife, Cigaretten. Zwanzig, ja dreißig waren an einem Tage keine Seltenheit.«
Im späteren Leben wird man ihn auf Fotos fast nie ohne Zigarette sehen, seinen Bedarf
steigerte er auf 100 bis 150, ja 200 Zigaretten pro Tag, zumeist selbstgedreht. Schon
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