• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 26

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kam.« Dorthin zog die Familie 1909, da der Vater auf der Karriereleiter die Stelle des
Reichsgerichtsrats am Leipziger Reichsgericht, dem Obersten Deutschen Gerichtshof,
übertragen bekam.
Rudolf Ditzen beschreibt ein Ereignis, das er noch in Berlin erlebte, als er mit
14 Jahren dem Wandervogel, einer Organisation, die Schülerfahrten durchführte, bei-
getreten war. Auf einer Reise wurde er von »Jemand zum Onanieren« verführt. Eine
sexuelle Aufklärung hatte »weder von den Eltern noch von Freunden« stattgefunden.
In der Folgezeit kann er davon nicht lassen, obwohl es ihm »ekelhaft« war. Anfäng-
lich fasste er das Onanieren »als ein Laster […] später als eine Krankheit« auf. Über-
raschend in diesem Zusammenhang schreibt Ditzen vom »Hauptmerkmal« seines
Ichs, »dass das, was ich tue und ausführe, rede und arbeite, nie die geringste Einwir-
kung auf mein Denken und Träumen hat«, und weiter: »Ich konnte von nun an auch
nicht mehr hassen und lieben– ich hatte nur noch Sympathien und Antipathien.«
Der Umzug nach Leipzig zog einen erneuten Schulwechsel in das Königin-Carola-
Gymnasium nach sich. Abgesehen von der anfangs problematischen Realisierung schu-
lischer Aufgaben kam es am 17. April 1909 mit einem vom Vater geschenkten Fahrrad
zu einem Unfall. Er stieß mit einem Fuhrwerk zusammen, zog sich eine schwere Ge-
hirnerschütterung zu und erlitt einen Riss in der Magenwand. Nahezu neun Wochen
befand er sich in stationärer Behandlung in einer Leipziger Privatklinik. Als Folge des
Unfalls traten »schlimme nervöse Kopfschmerzen« auf, die ihn am regelmäßigen
Schulbesuch hinderten. Er konnte nun nicht in der Obersekunda, sondern nur in der
Untersekunda unterrichtet werden. »Ich hatte jetzt aber auch die rechte Lust an der
Schule verloren.« Dennoch wurde seine »Stellung in der Klasse in Leipzig eine ganz
andere. Ich hatte«, so schreibt er, »in der letzten Zeit mit Gewalt meine Schüchtern-
heit bekämpft, da ich einsah, dass der Schüchterne doch nur stets den Kürzeren zieht.
Jetzt trat das Gegenteil ein. Ich kam in den Ruf eines großen Redners. Ja, man hörte so-
gar meine Vorträge im Deutschen Unterricht gern, etwas ziemlich seltenes. So kam es,
dass ich bald zu den Führern der Klasse rechnete.« Obwohl er sich als »Einspänner«,
als »Sonderling« bezeichnete, gewann er Freunde, wenn auch nur zwei, die zudem
»ganz entgegengesetzte Naturen« waren. Einer von ihnen war der »
W. B
.«, Wilhelm
»Willi« Burlage, geboren 1892. Der spielte an manchen Abenden Geige und Rudolf
fantasierte in Worten. War der »
W. B
.« ein »streng gläubiger Catholik«, so war der
andere, »
H. D. v. N
.«, Hanns Dietrich von Necker (1894– 1911), »Protestant« und er,
Ditzen, »Atheist«. Beide Freunde wollten ihn bekehren. »Das Gegenteil trat ein, ich
übermittelte ihnen eine leichtfertige, seichte Philosophie, die ich mir aus den Werken
O. Wildes und Nietzsches, mit eigenen Gedanken vermischt, aufbaute«, schreibt der
gerade 18 Jahre alt gewordene Rudolf, »eine Philosophie, die so wenig zu mir passte,
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