• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 16

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Die Kriterien, die einer Definition zugrunde lagen, waren aber teilweise so unterschied-
lich wie die Psychiater selbst und damit auch die Definition. Die Fachleute vertraten in
ihren Auffassungen verschiedene Richtungen, standen sich z. T. kontrovers gegenüber.
EinBeispiel hierfürwarendieAnsichtender Psychoanalytiker. SolcheZusammenhänge
können auch beim »Fall« Ditzen/Fallada aufgezeigt werden.
Mit Einführung der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen–man
wählte bewusst das Wort Störung und nicht Krankheit –durch die Weltgesundheits-
organisation (
WHO
) sind bislang zehn Revisionen erfolgt. Ähnlich verhält es sich mit
dem
US
-amerikanischen, von der American Psychiatric Association entwickeltenDiag-
nosesystem »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders«, dessen fünfte
Revision
DSM-V
seit 2013 in den Händen der Ärzte liegt. Die Änderungen bei den
Beschreibungen von Störungen, von Symptomen und der Zeitdauer ihres Anhaltens
führten schon aktuell zu heftigen Kontroversen
2
. Gerade am Beispiel der Depression
werden die unterschiedlichen Auffassungen deutlich. Lag bei der Stellung der Diag-
nose Depression das Zeitkriterium bislang bei sechs Monaten, wenn der Betroffene
z. B. einen nahen Angehörigen verloren hatte, so soll in Zukunft dieses Zeitfenster auf
zwei Wochen verkürzt werden. In der Praxis würde dies eine erhebliche Zunahme von
Menschen bedeuten, denen das Etikett – sprich die Diagnose –Depression zugestan-
den wird. Anhaltende menschliche Trauer und Traurigkeit wird dann nach Ablauf von
zwei Wochen als Depression diagnostiziert und therapiert werden. Hatte doch schon
Sigmund Freud in seinem Essay
Trauer und Melancholie
1915 formuliert: »Trauer
ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre
Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.«, und: »Die Me-
lancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine
Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit,
durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich
in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwar-
tung von Strafe steigert.«
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Der Begriff der Melancholie, aus der hippokratischen Me-
dizin des 4. Jahrhunderts vor Christus stammend, wurde fallengelassen zugunsten der
Depression. Nunmehr bezieht sich der Begriff der Depression auf einen psychischen
Zustand, in dem die Verschlechterung der Stimmung mit Angst, Unruhe, Gefühl der
Wertlosigkeit, herabgesetztem Antrieb, Gehemmtheit, Selbsttötungsgedanken und
körperlichen Funktionsstörungen wie Schlaflosigkeit das klinische Bild bestimmen.
Welcher Beschreibung auch der Vorzug gewährt wird–nicht nur bei der Melancholie
oder der Depression, sondern auch bei den anderen aufgezählten psychischen Störun-
gen Falladas –, stets wird sich die Frage stellen: Wo endet Gesundheit, und wo fängt
bei einemMenschen die Krankheit an?
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