• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 14

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Abhandlungen verwundert diese Frage zunächst. Brandt analysiert und bewertet in
knapper Form das Bisherige und benennt dessen Nutzbarmachung. Er empfiehlt Nahe-
liegendes, u. a. die Auseinandersetzung mit den »immer noch partiell weißen Flecken
in Falladas Biografie«.
An diesemPunkt soll angesetzt werden ohne die Absicht, eine neue Fallada-Biografie
vorzulegen. Es werden Krankenhausaufzeichnungen aus dem Jahre 1935 und 1946/47
vorgestellt, die bisher der Öffentlichkeit und den Fallada-Biografen nicht bekannt wa-
ren. Dabei handelt es sich um die Aufenthalte Falladas imWest-Sanatorium und in der
Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin sowie um die erstmalige Analy-
se der Krankenblattunterlagen seiner Aufenthalte in den Kuranstalten Berlin Westend.
Ein »partiell weißer Fleck« kann damit von der »Fallada-Landkarte« getilgt werden.
Die Krankenhausaufzeichnungen aus der Charité bilden ein wichtiges Teilstück in
der Vielfalt und Häufigkeit von Falladas Aufenthalten in Institutionen der Medizin.
Die Gründe für solche Aufenthalte sind ebenso vielfältig wie die von Ärzten gestellten
Diagnosen, besser gesagt: die Einschätzung des Verhaltens und der Person, des Pati-
enten Fallada. Benennungen wie »degenerative Psychopathie«, »Gemütsdepression«,
»psychopathische Minderwertigkeit«, »hochgradige nervöse Depression«, »endo-
gene Verstimmung«, »nervöser Erschöpfungszustand«, »Neurasthenie«, »Nerven-
zusammenbruch«, »Schlafmittelintoxikation«, »Morphinismus«, »Kokainismus«,
»Spielsucht«, »Alkoholismus« begleiten den Lebensweg Falladas. Aber auch Fallada
selbst fügt Begriffe wie »kleiner Nervenkollaps«, »Nervenkrise« oder »alberne De-
pression« den vielfältigen und zum Teil divergierenden Einschätzungen hinzu.
Im Grunde genommen spiegeln diese Aussagen auch deutsche Psychiatriegeschich-
te, speziell der forensischen Psychiatrie und des deutschen Strafrechts, wider. Fallada
kam schon vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit den Akteuren der Psychiatrie und
der gerichtlichen Psychiatrie, so die damalige Bezeichnung, in Berührung. Heute, als
forensische Psychiatrie tituliert, setzt sie sich wie damals mit Rechtsfragen auseinander,
die psychisch kranke Menschen betreffen. Die gutachterliche Beurteilung strafrecht-
licher Schuldfähigkeit sowie die Unterbringung, aber auch die Behandlung im Maß-
regelvollzug stellen zentrale Aufgaben dar. Damals wie in der Gegenwart –man denke
an jugendliche Amok-Täter oder die Tat des Norwegers Anders Breivik, der wegen
77-fachen Mordes angeklagt wurde –finden solche Vorgänge in der Öffentlichkeit ein
großes Echo und werden kontrovers diskutiert. Vereinfacht stellt sich oftmals die Fra-
ge: Gefängnis oder Psychiatrie?
Falladas Lebenszeit von 1893 bis 1947 fällt in einen schicksalhaften Abschnitt deut-
scher Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Kaiserreich, der Erste Weltkrieg, Revolu-
tion und Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg,
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