• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 81

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Bonnhöfer, Berlin, Charitee [sic]«, als anerkannte Kapazitäten auf dem Gebiet der
Nervenheilkunde vernommen werden sollen, um über den Geisteszustand des Ange-
klagten auszusagen.
Ditzen wird zweifellos von diesem markanten Schreiben Kenntnis gehabt haben.
Sein Gedanke, man müsse nur einen guten Anwalt kennen, der einen hier umgehend
heraus holt, ging ins Leere. Rehwoldts Antrag vom 6. September 1944 wurde als unbe-
gründet zurückgewiesen. Zu viel war beim Amtsgericht Neustrelitz über den Beschul-
digten bekannt, wurde in der Vergangenheit in Schwerin oder von der Ortsgruppe der
NSDAP
in Carwitz und Feldberg zusammengetragen und gemeldet. Es konnte nicht
angehen, dass einer der »bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller«,
der, wie im Beschluss der Ablehnung zu lesen ist, »zu übermäßigem Alkoholgenuss«
neigt – aktuell wurden ihm »2 Flaschen Mosel- und 10 Flaschen Rotwein« vorge-
halten – und der wegen »Nervenzusammenbruchs bereits Kuranstalten aufsuchen«
musste, nun wegen »der Begehung des Totschlags oder einer schweren Körperverlet-
zung« gegenüber einer »deutschen Frau« auf freien Fuß gesetzt wird. Was sollte die
»Volksgemeinschaft« in Ditzens Umgebung von deutschen Gerichten halten? »Die
Ausschaltung volks- und volksgemeinschädlicher Individuen ist Aufgabe der Reichs-
verwahrer«, hatte de Crinis 1938 bereits geschrieben.
Ditzen saß also weiterhin in Neustrelitz-Strelitz, Landesanstalt – Station 3 ein.
Und das wird bis zum 13. Dezember 1944 so bleiben. Seinen ersten Brief, vom 8. Sep-
tember 1944 datiert, richtet er an die Suse.
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Hierin bittet er inständig, ihmmöglichst
rasch Rauchwaren aus seinem Tabakschrank – »Tabak, Zigarillos, Priem usw.« – zu
schicken. »Da hier alle rauchen dürfen, fällt mir die völlige Entbehrung natürlich be-
sonders schwer«, so die ersten Zeilen nach all dem, was sich nach der Scheidung am
5. Juli 1944 zwischen den beiden zugetragen hat. Aber auch Esswaren sind erwünscht.
Der Brief endet mit einer für Ditzen wohl wichtigen Information zur Hafterleich-
terung. »Ich darf an einem Buch arbeiten und schreibe täglich ca. 15 Druckseiten.
Es geht mir den Umständen nach gut. Beste Grüße Ditzen.« An einem Buch arbei-
ten, täglich 15 Druckseiten schreiben, das ist der Schriftsteller Hans Fallada, wie er
sich selbst kennt und wie ihn andere auch kennen – trotz solcher Bedingungen zu
arbeiten, das erinnert an jene Zeilen, die Ditzen am 29. August 1917 an Anne Marie
Seyerlen gerichtet hatte. In der damaligen, wenn auch anders gearteten Krisensitua-
tion schrieb er ihr von seinen Ahnen, die ihrer Arbeit gedient hatten, davon, dass es
ein Arbeitsgewissen gäbe, das stärker sei als jede Lockung, stärker als dieWelt. Damals,
vor 27 Jahren zu Beginn seiner Karriere, ging es um die Fertigstellung seines ersten
Romans. Jetzt, in der Landesanstalt in Neustrelitz-Strelitz, geht es wieder um einen
Roman. Am 21. September 1944 liegt das Manuskript vor. Der Titel des Romans:
1...,71,72,73,74,75,76,77,78,79,80 82,83,84,85,86,87,88,89,90,91,...136
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