• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 85

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antwortet. Der Inhalt des Schreibens soll im Wortlaut wiedergegeben werden, da es
bislang in der Fallada-Forschung keine Erwähnung fand. Die Briefkopie Zutts an den
Oberstaatsanwalt beim Landgericht Neustrelitz befand sich als loses Blatt in der Kran-
kenakte Ditzen/Fallada der Kuranstalten Westend. Der Originalbrief gelangte am
25. September 1944 in die Akte beim Amtsgericht in Neustrelitz und befindet sich,
wie die anderen Unterlagen auch, im Landesarchiv in Schwerin. Am rechten oberen
Briefrand steht der Satz »In der Anlage geben wir unsere Aufzeichnungen über den
Schriftsteller Rudolf Ditzen (Hans Fallada)«. Nach einem Absatz folgt dieser Text:
»Mir ist der Kranke schon seit 1935 ärztlich bekannt, da ich ihn damals in der Ner-
venklinik der Charité kennen lernte. Es handelt sich um einen ganz ungewöhnlich von
Stimmungen abhängigen und in seinem Stimmungsleben schwankenden Menschen.
Der Wechsel seiner Stimmungen erfolgt sicher nicht nur infolge äußerer Erlebnisse,
sondern auch endogen. Es erfasst ihn zuweilen eine große Unruhe, die ihn dann zum
Gebrauch von narkotischen und berauschenden Mitteln bringt. Die unglückliche Ent-
wicklung seiner Ehe in der letzten Zeit ließ voraussehen, dass es zu großen Schwierig-
keiten kommenwerde. ImHinblick auf die Erregungszustände, die wir bei ihmgesehen
haben, ist kein Zweifel, dass mit der Möglichkeit krankhafter die Zurechnungsfähig-
keit ausschließender Zustände gerechnet werden muss. Ohne genauere Kenntnis der
Vorgänge lässt sich über die Zurechnungsfähigkeit nichts Sicheres sagen.«
Zutts vorsichtige, aber charakteristische Formulierungen zur Person des ihm be-
kannten Kranken sind für die Lösung der Aufgabe, vor die sich Hecker gestellt sieht,
von besonderem Wert. Noch dazu sind es Ausführungen von einem anerkannten
Fachmann der Nervenheilkunde, einem Professor an der Universität in Berlin. Alle
anderen Dinge, die Ditzen in seine jetzige Lage gebracht haben, finden bei Zutt, da
»genauere Kenntnis der Vorgänge« nicht vorliegt, keine Erwähnung. Zutt hält hier
also den Weg offen und ebnet den Weg für den Absatz 2 des § 51. Sein Text: »War die
Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln,
zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert, so kann die Strafe
nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden«, war der
Hebel, um Ditzen aus der Gefahrenzone, in der er sich befand, zu befreien. Zutt ver-
meidet in seiner Beschreibung tunlichst das Wort Psychopathie zur Charakterisierung
des Inhaftierten.
Einen ersten Teilerfolg erreichte Ditzen selbst, als sein Antrag auf eine Besuchs-
erlaubnis zu Hause in Carwitz vomOberstaatsanwalt genehmigt wurde. Hecker mach-
te zudem seinen Einfluss geltend, dass Ditzen von einemOberpfleger begleitet werden
konnte. Und so kommt es, dass Ditzen mit demOberpfleger Friedrich Holst am 8. Ok-
tober 1944 für vier genehmigte Stunden– auch zur Überraschung einiger Dorfbewoh-
1...,75,76,77,78,79,80,81,82,83,84 86,87,88,89,90,91,92,93,94,95,...136
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