• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 86

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ner von Carwitz – in sein Haus zu Suse und den anderen Bewohnern einkehrt. Es sind
jene Stunden, in denen Ditzen seine herausgeschmuggeltenManuskripte unterbringen
kann und von Suse mit Hausmannskost verwöhnt wird. Sie wird in den Kalender un-
ter dem 8. Oktober 1944 eintragen: »Etwas wilder Sonntag mit Besuch von R. Di. u.
Holst.«
Am 5. November 1944 liegt der von Hecker abgefasste zweiseitige Text über Ditzen
dem Staatsanwalt in Neustrelitz vor.
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Hecker formulierte kein Gutachten, es war eine
Beurteilung. Das, was er auf zwei Seiten über Ditzen zu Papier gebracht hat, zeichnet
sich durch seine psychiatrische und forensische Kenntnis, durch Objektivität und Sou-
veränität aus. Die Beurteilung, deren individuelle Bedeutung für Ditzen nicht hoch
genug eingeschätzt werden kann, ist wesentlich für das Verständnis des anderen Falla-
da und ein schriftliches Denkmal für Johannes Hecker, dessen weiteres Schicksal zu
einem tragischen Stück deutscher Geschichte gehört. Hecker schrieb:
»Schon von Jugend auf hat sich Rudolf Ditzen als eine stark abartige und aus dem
Rahmen des menschlichen Durchschnitts sich heraushebende Persönlichkeit erwie-
sen. Er bereitete Eltern und Schule Erziehungsschwierigkeiten, in der Pubertätszeit
versuchte er mit einem Kameraden durch Doppelselbstmord aus dem Leben zu schei-
den, aber auf eine möglichst Aufsehen erregende Weise. Jahrelang in einer Anstalt un-
tergebracht, beginnt er dann, sich für einen Beruf vorzubereiten, scheitert aber, da er
demMorphin sowie dem Alkohol verfällt und straffällig wird. Nach verbüßter Strafe
hält er sich denn, weil eine Ehe mit einer offenbar klugen Frau ihm Rückhalt verleiht.
Als er aber durch schriftstellerische Erfolge finanzielle Bewegungsfreiheit erlangt,
beginnt er wieder auszugleiten. Er greift zum Alkohol, er sucht seiner Stimmungs-
schwankungen, die ihn auch in den Jahren zuvor befallen hatten, nunmehr durch Ein-
nahme von Schlafmitteln Herr zu werden – vor Morphium scheut er offenbar zurück,
da dieses ihn einmal in die Tiefen menschlichen Daseins geführt hat. Er wird aber
auch nicht süchtig in dem eigentlichen Sinne, da der Missbrauch mit dem Abklingen
der Stimmungsschwankungen wieder verschwindet, wenn nicht äußere Lebensum-
stände ein inneres Zurruhekommen verhindern. Stets sexuell eingestandenermaßen
sehr appetent gewesen, nimmt er es mit der ehelichen Treue nicht genau. Stärkeren
Alkoholmissbrauch treibt er 1943 gelegentlich einer Vortragsreise durch Frankreich.
Nach Hause zurückgekehrt, wurde ihm von seinem Verlag der Stuhl vor die Tür ge-
setzt, was zu neuen Exzessen Anlass gab. Bald darauf kam ein neuer Fall ehelicher
Untreue ans Tageslicht, die sehr unerquicklichen Begleitumstände veranlassten sei-
ne Frau, scharf gegen ihn Stellung zu nehmen. Er reagierte mit Gereiztheit und ver-
mehrtem Verbrauch von Betäubungsmitteln. Behandlungen in Nervenheilanstalten
wurden viel zu kurzdauernd durchgeführt, konnten daher keinen wesentlichen Erfolg
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