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Aufenthaltes spricht dafür, dass weder Alkohol noch Depression zur Diskussion stan-
den. Ditzens Körper, der 14½ Pfund weniger wog, sollte auch von solchen Medika-
menten befreit werden. Bereits am 2. Dezember 1939 schreibt Ditzen aus Carwitz
an den Oberarzt Dr. Heinze und Vertreter Burlages nach Zepernick, der mit seiner
Familie im Sanatorium Heidehaus wohnte: »Die paar trüben Nachmittagsstunden,
die mir noch nach meiner Entlassung aus dem trauten Heidehaus verblieben, sind
meine Gute und ich durch Berlin geirrt und haben etwas gesucht, womit wir auch
einmal Ihnen eine kleine Freude machen könnten […] ich danke Ihnen noch einmal
für alles.« Das »traute Heidehaus« kannte Ditzen nunmehr in all seinen Einzelhei-
ten, den Eingang des Gebäudes, die Zimmer, die Betreuer, das Essen, den Garten. Und
weiter schreibt er an Heinze: »Wir sind ganz gut hier angekommen […] in den ersten
Tagen war ich noch ein bisschen zerknittert und aller Dinge müde, aber nachdem ich
in der letzten Nacht wirklich fest geschlafen habe, fühlte ich mich heute wieder der
Welt gewachsen.«
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Im Nachgang deutet alles darauf hin, dass es bei Ditzen zum wiederholten Male zu
jener stressbedingten Dekompensation mit Dysphorie gekommen war, die aktuell am
18. November noch in Carwitz mit zwei Spritzen Luminal und bei Vorstellung in Bur-
lages Praxis in Berlin mit Pernocton behandelt wurde. Danach erfüllte das Sanatorium
seinen Auftrag in Person von Dr. Heinze. Der dankte am 17. Dezember 1939 Ditzen für
den »liebenswürdigen Brief und den erstaunlichen Inhalt« und schrieb: »Ich hoffe,
dass nun auch die letzten Spuren des Intermezzo Heidehaus verflogen sind und Sie
sich wieder gänzlich wohl und zu Hause fühlen.« Ein Intermezzo, so die ärztliche
Einschätzung. Eskapade nach München, lautete 1935 die Bezeichnung. Wieder einmal
gleichen sich die Bilder.
Heinze, der, wie auf der Karte der Reichsarztregisters vermerkt, kein Mitglied der
NSDAP
war, wurde zum 1. September 1939 zur Luftwaffe eingezogen, konnte aber den
Dienst bis 1945 im Sanatorium Heidehaus in Zepernick fortsetzen. Am 30. Oktober
1939 erhielt er von der Ärztekammer in Brandenburg die Anerkennung als Nerven-
facharzt.
Im Jahr 1939 kam es zu katastrophalen weltgeschichtlichen Entwicklungen. Be-
reits am 15. März 1939 hatte Hitler die Wehrmacht in die »Rest-Tschechei« einmar-
schieren und das Protektorat Böhmen und Mähren errichten lassen. Am 1. Septem-
ber dann überfielen ohne Kriegserklärung deutsche Truppen Polen und der Zweite
Weltkrieg begann. Hitler nahm am 5. Oktober auf der Ujazdowski-Allee in Warschau
die Siegesparade ab. Seit Mitte September war als Folge des Geheimen Zusatzproto-
kolls zum am 24. August geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt die Rote Armee auf breiter
Front in Ostpolen eingerückt.
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