• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 72

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hang noch weitere Verhaltensweisen, wenn sie ausführt, »dass er sich gegenüber seiner
Frau abschottete. In dem Augenblick, wo das eheliche Verhältnis besonders kritisch
wurde, fing er an zu schreiben. Und da gab es dieses Tabu, dass er dann seine Ruhe
hatte. Manchmal schrieb er auch nicht und wollte nur isoliert sein«. Steiner beschei-
nigt Ditzen Gründlichkeit bei der Schreibarbeit, von einem»Schreibrausch« bei ihm
könne man nicht sprechen, vom schnellen Schreiben ja. Auch Steiner kannte von sich
den inneren Vorgang, dass man, so wie Ditzen, so viele Gedanken imKopf habe, die zu
Papier gebracht werden wollten.
Mit dieser Beschreibung und dieser Aussage steht Steiner im Widerspruch zum
Biografen Manthey. Dieser hatte in Anbetracht der Tatsache, dass »Fallada in dem
Carwitzer Jahrzehnt achtzehn umfangreiche Romane geschrieben« hatte, nicht nur
Zeichen ungewöhnlicher Produktivität gesehen. »Der Schreibvorgang«, soManthey,
»diente der Stillung eines Rauschverlangens. Und wie früher der Wunsch nach Auf-
hebung der Bewusstheit durch Rauschgifte seine tieferen Gründe hatte, so auch die-
ser Schreib-Zwang.«
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Die Biografin von Studnitz nahm diese Gedanken Mantheys
wohl auf, wenn sie ihrer Fallada-Biografie den Titel
Es war wie ein Rausch
gab. Seine
Figuren, so Ditzen zu Steiner, machten sich im Laufe einer Handlung meist selbst-
ständig, von daher sagte er: »Mit einem Exposé tue ich mich schwer, deshalb lehne
ich es ab, eines zu schreiben.« Auch an dieser Aussage sind Rauschverlangen oder
Schreiben als Rausch kaum ableitbar. Geredet wurde in dem Interview mit Steiner
1994 auch über Alkohol. Steiner hierzu: »Zunächst zu seinem heutigen Nimbus:
Der Trinker. Ich halte – auch nach Rücksprache mit anderen, die ihn kannten – die-
se ewig strapazierte Formel für völlig unangebracht. Ich habe Fallada nie betrunken
erlebt […] Jedenfalls wurde das mit seiner Trinkerei maßlos übertrieben und auch
zur Legende, die sich hier und da gut kolportierte.« In dieses Bild fügt sich Stei-
ners Bewertung: »Er war hilfsbereit, wahrheitsliebend, freigiebig, zuverlässig und
von einem tiefen Anstandsgefühl durchdrungen.« Und eine weitere, von Biografen
bislang kaum beschriebene Eigenschaft spricht sie an, er sei »ein Stotterer und Ste-
ckenbleiber« gewesen. Beides sind Charakterisierungen, die Ditzen selbst gegenüber
der Österreichischen kulturellen Vereinigung in Wien am 19. April 1938 abgegeben
hatte, als er schrieb: »Leider muss ich Ihnen absagen. Ich lese nie vor, denn ich bin
ein geborener Steckenbleiber, Stotterer und Stammler, und das ist weder für mich
noch für die Hörer erfreulich.«
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Es kann hinzugefügt werden, dass auch sein Vater
Wilhelm, wie in dessen Erinnerungen nachlesbar, ein Stotterer war, wenngleich er
eine Diphtherie-Erkrankung dafür verantwortlich machte. Sie wurde vom Hausarzt
1866 mit elektrischen Strömen der Sprechmuskeln – Lippe, Zunge, Gaumen – ohne
Erfolg behandelt.
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