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teljahr wegen einer Knieverletzung zur Operation. In dem von Professor Gebhardt
geleiteten Sportsanatorium wird sie aufgenommen und behandelt, so Angaben von
Annemarie Steiner 1994 imGespräch mit Müller-Waldeck. Steiner hatte Kontakte zur
Reichsjugendführung des BDM (Bund Deutscher Mädel), in dem 15- bis 21-Jährige
organisiert waren. Sie pendelte im Auftrag der Volksjugend im Mai 1938 von Öster-
reich in die Tschechoslowakei nach Mährisch-Schönberg, ihrer Heimatstadt im Su-
detenland. Es war die Zeit, als Hitler begann, die Sudetendeutsche Frage zu klären,
die am 29. September 1938 mit der Konferenz in München durch die Abtretung der
deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens an Deutschland
vorerst beendet wurde. Während dieser Ereignisse wurde Steiner in Hohenlychen am
Knie operiert, musste lange Zeit liegen, vertrieb sich die Zeit mit Lesen, so auch mit
Büchern eines Hans Fallada aus dem benachbarten Carwitz. Schließlich begann die
Volksjugend-Funktionärin, selbst zu schreiben, einen kleinen Roman mit dem Titel
Ein Schloss in Mähren
. Das Manuskript schickte sie aus Hohenlychen an den Rowohlt
Verlag nach Berlin, von dort gelangte es unter dem Autorenpseudonym in die Hände
Falladas, der es redigierte und mit einem positiven Verlagsgutachten versah. Unter
anderem formulierte Fallada: »In Mähren war ja auch die große Landsmännin von
Annemarie Steiner, Marie von Ebner-Eschenbach, beheimatet. Es ist meine ehrliche
Überzeugung, dass die junge Autorin sich anschickt, in ihre Fußstapfen zu treten.«
Der Roman erschien 1939.
Bei der Namensnennung von Marie von Ebner-Eschenbach, mit der Fallada die
noch unbekannte Autorin vergleicht, fühlt man sich sofort an jene Postkarte vom
2. Februar 1939 erinnert, die Ditzen während seines Aufenthaltes im Waldhaus in Ber-
lin-Nikolassee an seine Frau schickte und auf der er die Bitte äußerte, u. a. einen beliebi-
gen Band der Ebner-Eschenbach bei ihrem anstehenden Besuch mitzubringen. Ditzen
wird sich anscheinend im Zusammenhang mit der Affäre Steiner erneut und wieder-
holt mit dieser österreichischen Schriftstellerin auseinandergesetzt haben. Immer-
hin hatte er nun selbst einMärchen verfasst,
Pechvogel und Glückskind,
und das schickt
er der »Landsmännin« im Februar 1939 als Geburtstagsausgabe.
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Zweifellos ein Hö-
hepunkt in der Beziehung zwischen dem 46-Jährigen und der 19-Jährigen. Sie nahm
ihren Anfang, als sich Fallada bei Steiners erstem Aufenthalt in Hohenlychen mit ihr
traf, nachdem er das Manuskript von Rowohlt in die Hände bekommen hatte. Anne-
marie Steiner erinnert sich: Fallada »meldete sich dann und stellte auch fest, dass wir
gar nicht weit entfernt voneinander sind und hat mich dann einmal im Zusammen-
hang mit diesem Manuskript besucht«. Bei diesem Besuch scheint er von ihrer Per-
son recht angetan gewesen zu sein. Verflogen waren alle seine trübseligen Ideen, die
zu einer »albernen Depression« hätten führen können. Vielleicht fühlte er sich von
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