• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 66

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würde. Mit hoher Wahrscheinlichkeit suchte Rowohlt Ditzen in dieser Zeit im West-
Sanatorium auf, war über die Situation erschrocken und beunruhigt sowie zweifellos
der Meinung, dass etwas unternommen werden müsse. Allem Anschein nach erwies er
sich als Initiator, Ditzen in die Bonhoeffersche Nervenklinik in die Charité zu verlegen.
Vom West-Sanatorium in die Psychiatrische
und Nervenklinik der Charité Berlin
»Ditzen-Fallada, Rudolf-Hans, Schriftsteller u. Landwirt, Wohnort: Carwitz, Post
Feldberg in Mecklenburg«, so steht es in großen handgeschriebenen Buchstaben auf
dem Deckblatt der vom Archiv angelegten Krankenakte in der Psychiatrischen und
Nervenklinik der Charité Berlin. Unter der Nr. 1298 wird der Patient am 22. Mai 1935
aufgenommen, entlassen am 4. Juni 1935. Die Ziffer 952 gibt die Krankheitsform
an–Schlafmittelintoxikation. So nüchtern sind Aufnahmedaten, die den bewegenden
Lebensabschnitt eines Menschen umfassen.
Nunmehr besteht erstmals die Möglichkeit nachzulesen, welche Befunde die Ärzte
bei Ditzen erhoben und wie das Verhalten des Patienten in der Klinik war. Damit
schließt sich unter Hinzuziehung der Krankenblattkurve des West-Sanatoriums eine
Lücke in der Beurteilung des anderen Fallada. Da Unterlagen der Aufenthalte in Mün-
chen, Zepernick, Dresden oder Berlin-Nikolassee durch die Kriegseinwirkungen oder
nach der normalen Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren vernichtet wurden, ermöglicht
die Analyse des Krankenblattes der Charité einen Vergleich zu den erhaltenen Unter-
lagen aus der Binswangerschen Klinik in Jena, aus Tannenfeld, aus Stralsund und zu
den Aufenthalten in den Krankenanstalten Westend in Berlin, wo sich Ditzen in der
Zeit von Januar 1943 bis 20. März 1946 mehrmals befand. Durch diese Dokumente ist
es heute möglich, eine nahezu vollständige pathografische Lebensgeschichte über Dit-
zen vorzulegen, ohne dass der Blick für die schriftstellerische Leistung getrübt werden
soll. Beide Seiten dieses großartigen Erzählers sind untrennbar miteinander verbunden.
Schlägt man den Deckel des Krankenblattes der Charité auf, steht auf der ersten Sei-
te oben das Alter, 42 Jahre, drunter in der ersten Zeile weiter in Handschrift »kommt
im Krankenwagen vom West-Sanatorium«. Der Beleg dafür, dass Ditzen direkt vom
West-Sanatorium in die Nervenklinik der Charité verlegt wurde. Es folgt jener Ab-
schnitt, der bereits im Zusammenhang mit den Angaben zur Eskapade nach Mün-
chen zitiert wurde, ein Bericht von Anna Ditzen: »Angaben der Frau (kennt ihn seit
6½ Jahren). Die jetzige Sache ging vor ungefähr 9 Wochen los.« Suse berichtet offen-
sichtlich ruhig und gefasst. Der aufnehmende Arzt Dr. Zutt schreibt Zeile um Zeile
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