• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada - page 62

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Briefen bekannt, wenn Ditzen darniederlag oder abrupt das Weite suchte, folgen nach
Beschreibungen über den eigenen Zustand Hinweise zu Haus und Hof oder zu den
Finanzen. Am6.Mai 1935 schreibt er daherweiter: »dass Schmidt, ehe er vomGemenge-
acker Steine ablesen lässt, nachprüfen soll, ob die Ackerbohnen die Fußtritte der Leute
auch aushalten. [...] Sorge auch dafür, dass Schmidt nach dem Förster fährt und Holz
für die Reuter bestellt, und zwar möglichst bald lieferbar […] Kuck auch ab und zu ein
bisschen in die Futterkiste, ob Schmidt auch genug Sojabohnenschrot für die Kuh hat.
Dem Pferd gönnt er alles, und der Kuh möchte er nichts geben! Grüße alle im Hause
und sei selbst herzlich gegrüßt von Deinem Rudolf« (Rudolf handschriftlich).
4
Der
Brief belegt, dass Ditzen auch auf dem Krankenlager zunächst noch mit vollen Sinnen
schreibt und als Landwirt imMai auf Acker, Pferd und Kuh achtet.
Schaut man sich die aufgefundene Krankenblattkurve des Patienten Ditzen/Falla-
da von Zimmer 33 des West-Sanatoriums genauer an und vergleicht die dortigen Ein-
tragungen zur Therapie mit den Angaben von Dr. Schwalb, ergeben sich erstaunliche
Erkenntnisse, die Ditzens Verlegung in die Charité-Nervenklinik am 22. Mai 1935 zu
Bonhoeffer durchaus rechtfertigen. Dass sich Schwalb zum Präparat Dilaudid als wah-
res »Höllenzeug« äußerte, das besonders schwer abzugewöhnen sei, scheint berech-
tigt. Nur ist nicht bekannt, wie oft und in welcher Dosierung es Westphal aus Feldberg
verabreicht hatte. Es existieren auch keine Angaben darüber, was Ditzen oder Suse bei
ihren Besuchen im West-Sanatorium über den Aufenthalt in der Kuranstalt Neuwit-
telsbach in München berichtet hatten. Wusste Schwalb überhaupt von Ditzens Ent-
wöhnungsbehandlung damals bei Tecklenburg im Jahre 1919? Oder von »jener schlim-
men Berliner Zeit, als [er] ganz imMorphium verkam«? Wurden Schwalb gegenüber
Angaben zum Alkoholkonsum gemacht? Waren Schwalb die Ereignisse bekannt, als es
bei Ditzen um den § 51
StGB
ging?
Im Jahr 1935, dem zweiten Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten,
hatten sich die Verhältnisse verschärft. Seit dem 1. Januar 1934 war das sogenannte Ge-
wohnheitsverbrechergesetzinKraft,daszurEinführungdervermindertenZurechnungs-
fähigkeit führte, um die jahrelang die Reichsgerichtsräte, die Väter von Rudolf Ditzen
und Wilhelm Burlage, gerungen hatten. Nunmehr ging es bei der neuen Rechtspre-
chung nicht um den Einzelnen, sondern um die Interessen der »Volksgemeinschaft«.
Die Bekämpfung der Rauschgifte wie Morphium und Kokain, aber auch Alkohol
und Nikotin als »volksschädliche Laster« hatte sich die
NS
-Gesundheitsführung
mit ihrem Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti an der Spitze auf die Fahnen ge-
schrieben. Aufklärungs- und Verbotskampagnen gegen Alkohol- und Tabakkonsum
waren an der Tagesordnung. Der Führer Adolf Hitler –Vegetarier, Nichtraucher und
Antialkoholiker –war das Vorbild. Punkt 21 des in München beschlossenen national-
1...,52,53,54,55,56,57,58,59,60,61 63,64,65,66,67,68,69,70,71,72,...136
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