Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Theodor Fontane, Hans-Jürgen Gaudeck: Von London bis Pompeji mit Theodor Fontane - page 8

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Emilie hat Dir hoffentlich meinen letzten Brief zur Durchsicht geschickt, und Du
weißt beim Eintreffen dieser Zeilen bereits, daß ich die große Frage »London oder
Paris« zugunsten Londons beantworte. Es ist schwer zu sagen »warum«. Diese
lange Linie vom Louvre bis zum Arc de l’Etoile ist schön und groß und hat in
London nicht ihresgleichen; die Boulevards, das Palais Royal und die neue Rue
Rivoli (wo man, ungefähr so lang wie unsre Linden sind, unter Arkaden geht)
sind einzig in ihrer Art; und die Plätze sind teils größer, teils schöner, teils inte­
ressanter, als sie London aufzuweisen hat. Aber all’ das kann meine Total-Ansicht
nicht umstoßen. Wer mit einem Dampfer von Hamburg kommt und die Themse
erst bis zur Londonbrücke, dann bis zur Westminsterabtei und den neuen Parla­
mentshäusern hinauffährt, der hat mehr gesehn, als ganz Paris ihm bieten kann.
Paris ist ein vergrößertes Berlin, London ist eben London und ist mit gar nichts
andrem zu vergleichen. Paris ist eine sehr große Stadt, London ist aber eine Rie­
senstadt, d. h. sie macht den Eindruck, als sei sie nicht von schwachen Menschen,
sondern von einem ausgestorbenen Geschlecht gebaut, dessen kleinste Leute alle
sechs Fuß maßen.
Brief an seinen Vater Louis Henry Fontane, Paris, 19. Oktober 1856 – Den Brief
schreibt Fontane während seines dritten England-Aufenthalts von 1855–1859, wo er
für die ministerielle preußische Presse (»Adlerzeitung«) arbeitet. Bereits 1852 reist er
nach London, um die so genannte »Korrespondenz« zu übernehmen. Als diese Ende
März 1856 eingestellt wird, bleibt Fontane als Presseattaché in der Stadt. Um im teuren
London finanziell bestehen zu können, verdingt er sich nebenher als Sprachlehrer.
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