Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Thoedor Fontane, Hans-Jürgen Gaudeck: Ein weites Land - page 14

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Warnemünde ist der Hafen von Rostock, zugleich sein Charlottenburg. Man erreicht
es am bequemsten zu Schiff, auf einem jener vielen Wasseromnibusse, die den Ver-
kehr zwischen Mutter- und Tochterstadt unterhalten. Einer derselben, der alteWun-
dervogel »Phönix«, nimmt auch uns auf seinen Rücken und trägt uns, während ein
leiser Regen fällt und der Regenbogen seine Brücke baut, die Warnow hinunter.
Warnemünde, seinem Renommee nach eine Art Aschenputtel unter den Badeplät-
zen, ist gar so übel nicht. Was nutzt es, auf alte Schuld rekurrieren und der Zeiten
gedenken zu wollen, wo es hier nichts gab wie Flundern und klamme Betten; diese
Zeit ist hin, und die norddeutsche Bundesflagge weht jetzt von drei Hoteltürmen
über Gerechte und Ungerechte, über Rostocker und Berliner.
Rostocker und Berliner! Das führt uns auf die Einteilung Warnemündes in Vier-
tel oder Reihen oder Quartiere. Es gibt eine »Rostocker Reihe«, an der Warnow
hin, und eine »Berliner Reihe« (die freilich zunächst noch den offiziellen Namen
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Seestraße
führt), am Strande hin – zwei Stadtteile, die so verschieden voneinander
sind wie ihre sommerlichen Insassen. Die Rostocker Reihe, wenn nicht gerade ein
Nordost weht, liegt unterm Wind, die Warnow fließt eingedämmt daran vorüber,
die Fischer spannen ihre Netze, und eine eigentümliche Bollwerksluft, in der sich,
den ganzen Juli hindurch, Lindenblüte und Teer und Seetang eigentümlich mi-
schen, zieht die Häuserfronten entlang. Wie anders die Berliner Reihe! Hier weht
es beständig, das Wetter springt launenhaft um, Sommerjoppe und Winterpaletot
wechseln des Tages viermal die Herrschaft, und das Meer liegt weit offen da gegen
Norden. Im Rostocker Viertel alles Stille und Behagen, auch eine gewisse Enge; im
Berliner Viertel eine immer frische Brise und der Blick ins Weite.
»Briefe aus Mecklenburg«, 2.Abschnitt: »Warnemünde«; vgl. Anmerkung auf Seite 48.
– Fontane weilte mehrfach in Warnemünde, um zu urlauben und um zu arbeiten (»Wan-
derungen« und »Aus den Tagen der Okkupation«). Im benachbarten Rostock lebte zudem
sein Jugendfreund Friedrich Witte, beide Familien verband eine enge Freundschaft.
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