• Steffen Verlag | www.steffen-verlag.de | Rainer Maria Rilke: Oh hoher Baum des Schauns - page 9

5
Seit meiner Jugend begleiten mich die Gedichte Rainer Maria
Rilkes. Manchmal war es schwierig für mich, sie beim ersten Le-
sen zu erfassen. Und trotzdem legte ich sie nie aus der Hand. Die
Neugier und der Wunsch, sie zu verstehen, waren immer stärker.
Mich fasziniert bis heute sein Spielen mit Worten und Reimen.
Wie er mit leiser Sprache geheimnisvolle Welten beschreibt, auf
verschiedenen Ebenen sein Thema lyrisch aufschlüsselt. Er for-
muliert voller Grazie und Eleganz. Seine Sprache hat eine solche
Virtuosität und Intensität, dass sie nahezu metaphysische Linien
berührt.
Beim Lesen der Lyrik von Rainer Maria Rilke gewann ich den
Eindruck, dass er ständig auf der Suche nach dem Sein ist. Wo
dieWorteWahrheit werden.DieseVollkommenheit, so spürte er
wohl, würde ihm nicht gelingen und kaum in dieser Form des
Dichtens möglich sein. Dies führte dazu, dass er auf der Höhe
seines Erfolges sich zehn Jahre lang des Dichtens enthielt. Erst
dann brach er wieder in seineWortwelt auf. Ob er nun sein Ziel
erreichte, durch Dichtung in eine Welt zu kommen, die mehr
ist als das reine Wort, blieb unbeantwortet. Die Größe seiner
Dichtkunst, die Musikalität und Feinheit seiner Sprache sind
heute jedoch unbestritten. Das alles ließ mich versuchen, in die
Tiefe seiner Dichtung einzudringen und malerisch mit seiner
Lyrik einen Dialog aufzunehmen.
Mit den Gedichten von Eva Strittmatter konnte ich vor einiger
Zeit solch ein künstlerisches Zwiegespräch schon einmal führen,
weil ich sofort einen direkten Zugang zu dieser einzigartigen Ly-
rikerin und ihrer klaren, emotionalen Sprache fand. Ihre natur-
lyrischen Gedichte enthielten die Klänge, die mich spontan zum
malerischen Dialog führten.
Ich wählte nun aus Rilkes reichem poetischen Schaffen Gedich-
te aus, die wie Eva Strittmatters Lyrik einen direkten Natur-
bezug haben. Versuchte, auch seinen Weg zu gehen und Bilder
zu malen, die mehr sind als Abbilder, ohne in die Abstraktion
abzugleiten. Dabei war mir immer das Thema des jeweiligen
Gedichtes gegenwärtig, denn die Tiefen des Motivs sollten mit-
tels Pinsel, Farben und Wasser auf das Papier gebannt werden.
Dafür bot sich als ideale Maltechnik wieder das Aquarell an.
Mit dieser Technik lassen sich wunderbare Übergänge – nah zu
fern – erreichen. BeimMalen stellte ich zudem schnell fest, dass
sich eine ganz eigene persönliche Poesie des Bildes entwickelte.
Impuls zu diesem Vorgang war jedoch immer das jeweilige Ge-
dicht Rilkes.
Ob im Ergebnis meines Malens die Rilkeschen Verse noch eine
Vertiefung erfuhren, sollte offen bleiben. Das Aquarell in seiner
reinen Form – dieses faszinierende Spiel mit Wasser und Far-
ben – hat eine eigene Dynamik. Das seelische und handwerk-
liche Können erreicht auch hier seine Grenzen. Doch wenn es
dem Leser der Gedichte und dem Betrachter der Bilder Zugang
zur Poesie verschafft, dann könnte sich der Dialog zwischen
Dichter und Maler gelohnt haben.
Hans-Jürgen Gaudeck
Im Dialog mit der Lyrik Rainer Maria Rilkes
1,2,3,4,5,6,7,8 10,11,12,13,14,15,16,17,18,19,...26
Powered by FlippingBook